In unserer Vorstellung tummeln sich die kreativen Köpfe meist in hippen Großstädten: Kunstschaffende, die in einem bunten Atelier an ihren Schöpfungen werkeln und sie dann in urbanen Galerien zur Schau stellen, Musiker*innen, die uns in eindrucksvollen Opern oder an der Straßenecke mit ihrem Talent in den Bann ziehen oder Film- und Fernsehschaffende, die in riesigen Studios an ihren Regieplänen oder schauspielerischen Fähigkeiten feilen.
Dass kreatives Arbeiten im ländlichen Raum genauso möglich und wichtig ist, zeigen die Projektteams von „Stadt Land Kreativ“ modellhaft. Mit dem Förderprogramm unterstützte die MFG Baden-Württemberg im Jahr 2022 erstmals vier Initiativen, die die Kultur- und Kreativwirtschaft in ländlichen Räumen sichtbar machen, fördern und nach vorne bringen soll: Kultspace Münsingen, „11 Räume“ in Offenburg, Boden.See.Kreativ. und die Kreativwerkstadt in Villingen-Schwenningen. Am 28. September 2022 trafen sich die Teams zur offiziellen Abschlussveranstaltung auf dem Wizemann Areal in Stuttgart.
Die MFG Redaktion hat mit den Teams gesprochen und sie nach ihren Eindrücken, Plänen und Highlights gefragt: Die Grafik- und Webdesignerin Jessi Steinbach ist eine der treibenden Kräfte bei „Die Kreativwerkstadt“, einem städtischen (digitalen) Kreativnetzwerk für Villingen-Schwenningen und Umgebung. Christina Wechsel arbeitet mit ihren Kolleg*innen bei „Boden.See.Kreativ.“ an einer Netzwerkstruktur für die Kultur- und Kreativwirtschaft in der Bodenseeregion. Mit dem „Kultspace“ bieten Antje Kochendörfer und Team Kreativschaffenden aus dem Landkreis Reutlingen einen Co-Working Space in Münsingen. Parvati Sauer und Linda Kunath-Ünver unterstützen in ihrem Projekt „11 Räume“ elf Kreative aus den elf Branchen der Kreativwirtschaft in der Ortenau mit einem einjährigen Mentoringprogramm.
Die Reise mit Stadt Land Kreativ neigt sich dem Ende zu. Welcher Aspekt des Förderprogramms war für euer Kreativprojekt der wichtigste?
Jessi Steinbach: Da wir von Null losgingen, war die Finanzierung der ersten Schritte für uns ausschlaggebend, um die Idee überhaupt in die Tat umsetzen zu können.
Christina Wechsel: Die Teilnahme am Projekt Stadt Land Kreativ hat uns bei der Umsetzung deutlich gepusht. Besonders die Coaching Days waren für uns immer wieder hilfreich.
Antje Kochendörfer: Der Kultspace ist das erste Projekt des Landkreises Reutlingen, welches neben Kunst- und Kulturakteur*innen auch Kreativschaffende anspricht. So konnten wir neue Zielgruppen erschließen. Aus diesem Grund waren für uns auch vor allem die Kontakte der MFG zur Kreativ- und Kulturszene in der Region Reutlingen besonders nützlich.
Parvati Sauer: Durch die finanzielle Unterstützung und regelmäßigen Coachings hatten wir unsere Meilensteine immer im Blick. Auch der Austausch mit Außenstehenden war unglaublich wertvoll für die Umsetzung unseres Festival- und Mentoringprogramms.
Wie hat sich euer Projekt in den letzten Monaten entwickelt? Wie geht es nun weiter?
Jessi Steinbach: Zu Beginn fokussierten wir uns auf das digitale Grundgerüst. Wir sind froh, dass sich das Projekt so entwickelt hat, dass nun auch die ersten Kreativen für Austausch und Netzwerken analog an einem Tisch sitzen und wir beide „Welten“ verbinden. In der nächsten Zeit bauen wir genau dieses Grundgerüst digital und analog aus – der Kreativpool wächst, wir planen Online-Webinare und weitere Coffee&Talk Treffen vor Ort.
Christina Wechsel: In den letzten Monaten hat sich vieles getan. Boden.See.Kreativ. wächst und gedeiht und wir konnten die Kreativschaffenden in jeden Schritt gut einbinden. Bei der Namensgebung und Logoauswahl waren die Kreativen mit Ideen und einem Abstimmungsprozess beteiligt. Das Online-Portal kann demnächst online gehen. So können wir die Sichtbarkeit der Kultur- und Kreativwirtschaft in unserer Region immer weiter voranbringen.
Antje Kochendörfer: Für uns ist unser Projekt „Kultspace“ geglückt: Wir konnten den Kreativen und Kulturakteur*innen aus unserem Landkreis nach den einsamen Wintermonaten einen Raum zum gemeinschaftlichen Arbeiten kostenfrei zur Verfügung stellen und somit die Sichtbarkeit dieser Gruppe erhöhen. Deswegen sind wir gerade dabei, einen „Kultspace 2.0“ zu planen.
Parvati Sauer: Mit Durchführung der „11 Räume“ Veranstaltung ist die erste Phase abgeschlossen, die zweite Phase rund um das Mentoringprogramm ist angelaufen. Zurzeit planen wir bereits die zweite Auflage der Veranstaltung im Jahr 2023.
Was war euer Highlight der Stadt Land Kreativ-Reise?
Jessi Steinbach: Es ist schwierig, nur ein Highlight zu nennen. Vom Go-Live der Website über die ersten Anmeldungen für den Kreativpool bis zum ersten Offline-Treffen. Vermutlich war das Beste dann beim ersten Coffee&Talk Treffen vor Ort zu sehen, dass wir genau die Bedürfnisse der Kreativen ansprechen und sich all die Mühen und Herausforderungen auf unserem Weg durchaus gelohnt haben!
Christina Wechsel: Die Coaching Days waren neben der ohnehin aufregenden Zeit beim Netzwerkaufbau immer ein Highlight. Der immense Vorteil bestand vor allem darin, dass über den regelmäßigen Einblick von außen neue Impulse einfließen konnten. Die Konstellation der Beteiligten war hierbei immer hervorragend und wir konnten die Tage intensiv nutzen und unheimlich viel daraus mitnehmen.
Antje Kochendörfer: Die ungezwungenen Austauschmöglichkeiten – beispielsweise in Offenburg – mit den anderen Gewinnerteams. Gleichzeitig aber auch die enge Zusammenarbeit mit den Kulturakteur*innen und Kreativen sowie deren Begeisterung für das Projekt.
Parvati Sauer: Unser Highlight war das Abschlusstreffen in Stuttgart, bei dem wir endlich persönlich die Menschen hinter den anderen Projekten kennenlernen durften.
Warum sollten noch mehr Kreativschaffende im ländlichen Raum leben und arbeiten?
Jessi Steinbach: Auf dem Land ist, unserer Meinung nach, die Kreativszene nicht so anonym wie beispielsweise in der Großstadt. Mit den richtigen Angeboten können hier engere Kontakte entstehen und auch nachhaltig gepflegt werden. Das Angebot ist nicht so sehr übersättigt. Das ländlichere und zugleich ruhigere Leben ist insbesondere für Kreative eine tolle Möglichkeit, die eigene kreative Stimme zu hören und sich zu entfalten.
Christina Wechsel: Leben nicht schon viele Kreativschaffende im ländlichen Raum? Werden diese einfach nur nicht wahrgenommen, weil jeder auf die kreativen Metropolen blickt? Dies ist ein wesentliches Merkmal der Kultur-und Kreativwirtschaft im ländlichen Raum: fehlende Sichtbarkeit. Das Arbeitsumfeld ist heute zunehmend digital vernetzt und bietet die Möglichkeit, seinen Lebensraum freier zu wählen. Nicht jede*r Kreativschaffende*r träumt davon in einem Szeneviertel in einer der Metropolen zu leben. Wer also auch die Natur als seinen Inspirationsraum sieht, für sich selbst oder mit seiner Familie einen ruhigeren Lebensort sucht, ist im ländlichen Raum eher zu Hause. Ideen entstehen überall!
Antje Kochendörfer: Vor allem in unserer Region stellt die Umgebung mit der landschaftlich reizvollen Schwäbischen Alb eine große Inspirationsquelle für die Kreativschaffenden dar. Zudem finden Kreative im ländlichen Raum gute wirtschaftliche Voraussetzungen vor.
Parvati Sauer: Ganz einfach: Weil es dort Luft zum Atmen und Platz zum Austoben gibt.
Safe journey, Pioneers!
In einem intensiven Austausch diskutierten die Teams bei der Abschlussveranstaltung am 28. September ihre Erfahrungen als Mitgestalter*innen der ländlichen Kultur- und Kreativwirtschaft. Anschließend lenkte ein Impulsvortrag von Jonas Nussbaumer von Kreatives Unternehmertum den Blick der baden-württembergischen Kreativköpfe auf andere Bundesländer und Projekte. Zum Abschluss versammelten sich die Teams, Projektkoordinator*innen, Juror*innen, Förder*innen und andere begleitende Personen zum gemeinsamen Abendessen.
Interview: Tobias Schneider
Mehr Infos:
Stadt Land Kreativ
Kreatives Unternehmertum